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Anmerkung: Die Zeugin zögert mit der Antwort.
»Nein. Sie verstellt sich nicht. Nein.«
Vernehmungsende: vierzehn Uhr vierzig.
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Als ich Torsten Kolb in das kleine Zimmer im zweiten
Stock bringen wollte, rief Oberkommissarin Freya Epp
an.
»Ich hör drinnen Musik, aber er macht nicht auf«, sagte
sie.
Ich sagte: »Ich komme sofort hin.«
Ohne eine weitere Erklärung bat ich Paul Weber, noch
eine Weile auf Kolb aufzupassen, und rannte die Treppe
hinunter zum Hof, wo unsere Dienstwagen standen. Den
Zweitschlüssel zu Martin Heuers Wohnung trug ich
immer bei mir.
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»Rühr mich bloß nicht an, rühr mich bloß nicht an,
rühr mich bloß nicht an, rühr mich bloß nicht an & «
Ich rührte ihn nicht an. Von der Wohnungstür bis ins
Wohnzimmer, wo er auf dem Boden lag, mit dem Gesicht
nach unten, die Arme von sich gestreckt, führte eine
Schlangenlinie ungerauchter, filterloser Zigaretten, min-
destens fünfzig Stück.
»Das ist die Erde«, hörte ich Martin Heuer sagen, das
Gesicht auf den grauen Auslegeteppich gepresst. Zwi-
schen den Sätzen drehte er den Kopf und schnaufte
wie ein Sportschwimmer beim Wettbewerb, er hob die
Augen, und ich, der neben ihm kniete, sah die eingefalle-
nen grauen Wangen und den Speichel, der aus seinem
Mund tropfte. Er hatte seine alte Daunenjacke angezo-
gen und den Reißverschluss bis zum Kinn geschlossen.
Trotzdem zitterte er am ganzen Körper. Und da er die
Beine aneinander drückte, berührten sich die Absätze
seiner Schuhe und verursachten durch das Zucken der
Füße ein klackendes Geräusch, das Freya, die bei Mar-
tins Anblick erschrocken zum runden Tisch in der Fens-
ternische zurückgewichen war, nur ertrug, indem sie
sich immer wieder die Ohren zuhielt. So verstand sie nur
wenig von dem, was er stammelte, und das erleichterte
mich ein wenig. Denn Martin redete zu niemandem,
nicht einmal zu mir oder sich selbst, die Worte ran-
nen aus seinem Mund wie sein Speichel, es war, als
würde sich seine Seele erbrechen, als wäre ihm mit
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jedem Wort, mit jeder Bewegung seines Kopfes das Rin-
gen nach Luft gleichgültiger, als wolle er mit dem Mund
einen Tunnel in ein schäbiges fusseliges Leben graben
und so lange durchhalten, bis er vollkommen darin
verschwunden war, von seinem Atem verachtet, endlich
am Ziel, endlich von sich selbst vergessen.
»Das ist die Erde, und du bist nicht mal ein Krümel.
Die Frau, die trinkt, die weiß alles, aber wir sind auf
der anderen Seite. Wir sind immer auf der anderen
Seite. Immer da, wo die anderen nicht sind, wo nur wir
sind.
Rühr mich bloß nicht an! Ich sitz bei der Frau, die
trinkt, und ich trink mit, ich trink mit, ich sitz und
trink. Sitz und trink. Und sterb. Sterb schön. Du bist für
die Lebenden, nichts mehr mit Mord, nichts mehr mit
Leichen. Du hast das doch gehabt, du warst doch da, da.
Du darfst das nicht vergessen. Weil, das zeigt, das be-
weist was. Das beweist, Sterben, schau, schau hin, geht.
Das geht. Du hast doch das gesehen, du hast die Hände in
die Hosentaschen gesteckt, aus Gewohnheit. Steht einer
zu Füßen einer Leiche. Und denkt wahrscheinlich an
die Welt draußen. Denkt und denkt, und die Leiche ist
gerettet.
Du hast einen Freund, einen Freund, der hat eine Freun-
din und ein Leben, der redet nicht viel, du hast den
Freund, du hättst den Freund im Notfall. Du kennst den,
du hast ihm gesagt, wir machen jetzt Polizei. Prüfung
geschafft, Polizei gemacht. Du wärst in der Uniform ge-
blieben, dein Freund wollt das nicht, Recht hat er. Der hat
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Recht, das kann er, Recht haben. Aber ein Rechthaber,
das ist er nicht.
Ich schon. Und die Erde auch. Die Erde ist die größte
Rechthaberin, die es gibt. So viele Planeten und ausge-
rechnet die Erde. Zu viel nachgedacht. Nachgedacht, aber
nichts gedacht. Verstehst du endlich? Du denkst nach,
aber du denkst deswegen nichts. Du hast bloß Gedenke
im Kopf. Dauernd Gedenke und außen herum Leute, die
reden. Wie die Frau, die trinkt.
Hör der Frau zu, die trinkt! Hör der Frau zu! Hör der Frau
zu! Bitte hör der Frau zu! Die weiß doch alles. Aber wir
wissen das nicht. Gedenke. Gedenke. Dann trink was,
trink jetzt auch was! Gut so. Getrunken, Flasche leer. Ge-
trunken, Flasche leer. Gut so. Lilo. Du hast doch Lilo in
der Nacht. In der Nacht. In der Nacht hat jeder eine Lilo,
irgendwo, das ist kein Kunststück. Gehst du hin, wos
dunkel ist oder zwielichtig, ist die Lilo da. Das ist kein
Kunststück. Ist doch Bluff. Ist doch gar kein echter Kör-
per, ist doch Hautzeug bloß, Hautzeug, das riecht und
Öffnungen hat. Haha. Kenn ich doch. Hast du doch be-
ruflich. Das ist aber unfair. Nein. Das ist alles so wahr,
dass du stirbst dran. Lilo. Was ist denn?
Rühr mich bloß nicht an! Dein Freund hat eine echte
Freundin. Echte Freundin und Kollegin, sehr gut so. Gut
so. Dein Freund geht in ein Hotel mit seiner Freundin,
am Tag. Nicht in der Nacht. Am Tag. Am Tag. Das ist
das. Und du? Lilo. Du gehst zu Lilo und duscht dich
bei ihr, in ihrem Zimmer steht eine Dusche. Für die Stin-
ker unter ihren Kunden. So wie du. Alles gleich, alle
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gleich. Ich will das nicht mehr. Hör auf damit. Ich bin
jetzt Polizei seit fünfundzwanzig Jahren, du bist schon
selbst ein Schreibtisch. Du bist eine Akte und ein Ver-
merk, du bist eine Vernehmung. Wenn du wohin gehst,
wo Leute sind, und die reden, dann hörst du zu und stellst
Fragen, und sie antworten, und du bist die Vernehmung, [ Pobierz całość w formacie PDF ]

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